Wer schon einmal auf der Kopfsteinpflasterpassage im Wald von Arenberg war, der kann sich ein ungefähres Bild davon machen, was die Radprofis und auch die Junioren sich antun, wenn sie mit ca. 60 km/h von St. Amand les Eaux kommend, in dieses am meisten gefürchtete Pavè hineinfahren.
Am Vortag ist alles noch sehr ruhig im Wald von Arenberg. Ein paar Zelte stehen schon und das Bier ist auch schon angestochen. Allerdings hauptsächlich für die Helfer, die schon seit fünf Uhr früh Absperrgitter aufstellen und die letzten paar Steine aus der Kurve kehren. Zuschauer sieht man noch nicht, und auf dem Parkplatz stehen nur einige Wohnmobile. Der Mann hinter dem Absperrgitter sieht mich in meiner roten AUSTRIA Jacke, winkt und fragt: “Où venez-vous?“ Ich sage: „Austria!“ Er:“Ahhh..Australia“! Ich:“No, no, no, Austria“, und zeige auf die Schrift meiner Jacke. Er lacht und will mir Wein anbieten, den ich aber dankend ablehne.
Die Jungs sind seit ca. zwei Stunden auf dem Rad. Es ist Samstag, halb zwölf und wir besichtigen die ersten drei Pavès vom morgigen Rennen. Wir sind mit sechs Fahrern, dem Nationaltrainer, einem Mechaniker und einem Betreuer unterwegs. Die erste Aussage zum Pavè in Arenberg kommt von Daniel Biedermann, der sich ein „Ja bist du deppat. Is des geil...“, nicht verkneifen kann. Die anderen reagieren ähnlich. Der eine mehr, der andere weniger geschockt. Und es stimmt: Im Fernsehen schaut es lange nicht so schlimm aus wie es in Wirklichkeit ist. Voller Neugier schnappe auch ich mir ein Rad um ein paar Meter in dieses legendäre Pavè hineinzufahren. Zugegeben, ohne Radhose und passende Schuhe ist es wahrscheinlich noch etwas unangenehmer. Mir schmerzen schon nach wenigen Metern die Arme. Kaum zu glauben, dass man hier mit 40 km/h drüberfahren kann.
Wir schauen uns noch die anderen drei Pavès an und fahren zurück zum Hotel. Die Jungs sind gut drauf. Nach dem Essen gehe ich von Zimmer zu Zimmer und massiere. Wir reden. Fast alle haben sich schon überlegt, wie sie das Rennen fahren wollen. Viele Möglichkeiten gibt es sowieso nicht. Da die ersten 40 km auf Asphalt sind, wird das Rennen relativ ruhig beginnen. Zum ersten Pavè hin wird es Positionskämpfe geben, weil natürlich jeder weit vorne hineinfahren will. Die Pavès sind zwischen 1500m und 3000m lang. Da sollte man versuchen möglichst nicht zu stürzen und nicht nach hinten „durchzurutschen“. Ansonsten hoffen dass man ohne Defekt durchkommt, was bei diesem Rennen allerdings an ein Wunder grenzt.
Am Abend dann nochmal eine Besprechung mit Nationaltrainer Jure Pavlic. Er gibt nochmals Tips und wir besprechen die Gegner. Dann heißt es schlafen.
Sonntag. 11.04.2010, 06.00 Uhr früh, Paris – Roubaix, Start um 11.00 Uhr
Wir sind früh auf den Beinen. Gemeinsam mit dem Mechaniker montieren wir die Räder aufs Auto. Dann ab zum Frühstück. Die Jungs sehen müde aus und angespannt. Trotzdem essen sie reichlich. Nach dem Frühstück Abfahrt nach St. Amand les Eaux, wo um 11.00 Uhr der Start ist. Wir müssen uns beeilen, denn wir haben vorher noch Teampräsentation. Der ganze Ort ist auf den Beinen. Während sich die Jungs umziehen bereiten wir die Räder vor. Bei Paris-Roubaix fährt man nicht, wie sonst üblich, mit 9 oder 10 bar Reifendruck. Ich pumpe zwischen 6,2 und 6,5 bar rein, je nach Reifengröße. Manche fahren mit 27iger Reifen, andere mit 25igern.
Dann ab zur Teampräsentation. Der Sprecher stellt jeden Fahrer kurz vor. Nach ca. fünf Minuten sind die Jungs auf den Rädern um sich warmzufahren. Mittlerweile sind die Straßen gefüllt mit Menschen, und französische Schlagerlieder verringern nicht unbedingt die Nervosität. Als die Jungs vom warmfahren zurückkommen haben wir noch 10 min. bis zum Start. Ich nutze die Zeit um ihnen die Beine etwas einzureiben. Dadurch kann ich sie nochmal kurz beruhigen und die wichtigsten Sachen besprechen. Doch keine zwei Minuten nachdem ich angefangen hab, stehen 20 Menschen um mich herum, zücken ihre Fotoapparate und Kameras und schauen interessiert zu, was ich da mache. Ich lass sie schauen und konzentriere mich auf mein Vorhaben.
11.00 Uhr – Start
Die ersten 40 km verlaufen wie erwartet relativ ruhig. Unser Auto hat die Konvoinummer 14. Ich sitze auf dem Rücksitz, 5 Laufräder auf dem Schoß, ein 15er Schlüssel in der linken, ein Kombi-Imbusschlüssel in der rechten Hand und warte auf das erste Pavè. Vor mir am Sitz klebt die Starterliste, daneben Radio Tour. Die arme Frau, die die undankbare Aufgabe hat, die Nummern der gestürzten Fahrer und der Fahrer, die einen Defekt haben, anzusagen, hat eine liebreizende Stimme. „Wie passend“, denke ich mir und mache ein paar Fotos. Dann die Durchsage:“ Noch 500 Meter bis zum ersten Pavè!“ Ich merke wie die Nervosität in mit hochsteigt und lege die Kamera beiseite. Das Tempo des Feldes liegt jetzt ca. bei 55km/h, das zeigt zumindest unsere Tachonadel. Und dann die Einfahrt. Mit einem Mal explodiert das Funkgerät. Die Frau kommt nicht mehr dazu Luft zu holen. Binnen 30 Sekunden muss sie 30 Nummern, bzw. Nationen ansagen! Darunter auch „Austria“! Wir können nichts machen. Auf den Pavès kann man nicht überholen. Wir warten. Dann sehe ich Lukas Ranacher. Er kommt aufgeregt mit seinem Hinterrad in der Hand angelaufen. Ich springe raus und tausche es, setze ihn drauf und schiebe ihn an. Das alles im staubigen Getümmel von Fahrern, Betreuern und Zuschauern. Wahnsinn. Wir brauchen ca. 15 Minuten, um wieder an unsere Position zu fahren. Für Lukas sieht es schlecht aus. Er hat über eine Minute aufs Hauptfeld aufgerissen. „So, jetzt bitte nichts mehr“, denk ich mir und mache kurz ein paar Fotos, als ich durch den Funk „Austria, Austria“ höre. Wir können wieder nur warten. Doch es tut sich nichts. Auf einem langen Teilstück kann ich Daniel erkennen, der hinter dem Feld fährt. Doch wir können nichts machen.
Nach dem dritten Pavè steht Robert im Verpflegungsbereich. Dort tauschen wir. Robert nimmt meinen Platz ein und kümmert sich nun um die Fahrer. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mit dem Bus nach Roubaix zu fahren und das Rennen dort an der Leinwand zu verfolgen. Leider zeigen sie nur Ausschnitte vom Rennen. Das meiste berichtet der Sprecher. Natürlich auf französisch. Ich warte. Aber ich habe schon mitbekommen, dass keiner von uns unter den ersten 10 Fahrern ist. Die Stimmung im Velodrom ist gigantisch. Als die ersten 5 Fahrer kommen muss ich mir fast die Ohren zuhalten, so laut wird es. Die ersten drei Gruppen fahren ins Ziel. Da kann ich in der vierten Gruppe ein österreichisches Trikot erkennen. Es ist Maxi Kuen. Er wird 19. Ich empfange ihn mit Applaus. Hier durchzufahren ist schon was. Als nächster kommt Martin Kunz rein. Er wird 29. Daniel Biedermann kommt als einer der letzten, die noch im Zeitlimit sind. Er wird 59. Mit zwei Stürzen und einem Defekt. Alle drei sehen wirklich fertig aus.
Von sechs Fahrern sind drei durchgefahren. Nationaltrainer Pavlic ist zufrieden. Mehr als er erwartet hat, ist sein Statement. Pech hatte Lukas Ranacher, der nach seinem Defekt auch noch gestürzt ist und aus dem Rennen genommen wurde.
Für mich war es eine unglaubliche Erfahrung. Wer Paris-Roubaix einmal live gesehen hat, der denkt anders darüber. Ich freue mich jedenfalls jetzt schon auf nächstes Jahr, wenn es wieder dorthin geht.

Jörg Pöpperl

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